Montag, 11. September 2017

Gedichtinterpretation Spätromantik



Erschließen und interpretieren Sie das Gedicht Um Mitternacht von Eduard Mörike. Analysieren Sie dabei die Klangstruktur , den Rhythmus und die Reime des Gedichtes und gehen Sie auch auf die Bildersprache und die Grundstimmung des Gedichts ein.

Eduard Mörike, „Um Mitternacht“, 1838



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Gelassen stieg die Nacht ans Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Ihr Auge sieht die goldne Waage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;
      Und kecker rauschen die Quellen hervor
      Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
          Vom Tage,
      Vom heute gewesenen Tage.



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Das uralt alte Schlummerlied,
Sie achtet’s nicht, sie ist es müd;
Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
Der flücht’gen Stunden gleichgeschwung‘nes Joch.
     Doch immer behalten die Quellen das Wort,
     Es singen die Wasser im Schlafe noch fort
         Vom Tage,
     Vom heute gewesenen Tage.



Erwartungshorizont
A. Angaben zum Autor, Gattung (Lyrik), Entstehungszeitraum (Spätromantik), Titel (romantisches Motiv der Nacht)

Fokussierung:
Im Folgenden (In meiner Analyse) betrachte ich zunächst die äußere Form des Gedichts, vor allem den Rhythmus, die Reime und die Klangstruktur, danach erschließe ich den Inhalt, die Bildersprache und die Grundstimmung des Gedichts. Abschließend versuche ich eine Gesamtinterpretation.

B. Erschließung und Interpretation des Gedichts „Um Mitternacht“

1. Analyse der äußeren Form

1.1. Zwei Strophen zu je acht Versen, deutlich zweigeteilt 4/4: Paarreim. Metrum:
In Vv. 1-4 langsamer, getragener Rhythmus. Subjekt ist die Nacht:
- Vv. 1-2 = vierhebiger Jambus, Reim a, stumpfe/männliche Kadenz
- Vv. 3-4 = fünfhebiger Jambus, Reim b; stumpfe/männliche Kadenz
In Vv. 5-8 wesentlich schnellerer Rhythmus. Subjekt sind die Quellen/die Wasser.
- Vv. 5-6 = vierhebiger Jambus +Daktylus, Reim c, stumpfe/männliche Kadenz
- Vv. 7-8 = einhebig/dreihebiger Jambus+Daktylus, nur hier: klingende/weibliche Kadenz im Reimwort d („Tage“).
Der unreine Reim Vv. 9/10 „-lied/müd“ kann vielleicht durch den schwäbischen   Dialekt Mörikes erklärt werden, aber auch eine inhaltliche Erklärung ist möglich: die Nacht will dem Schlummerlied der Quellen nicht zuhören, der Reim wird daher nicht rein erwidert.

1.2. Klangstruktur: es gibt keine auffällige Klangstruktur. Da alle Vokale vorhanden und gleichmäßig verteilt sind, hat das Gedicht einen sehr schönen, musikalischen Klang (=typisch romantisch).

2. Analyse des Inhalts, der Bildersprache und der Grundstimmung

2.1. Inhalt, Bildersprache: Es gibt kein lyrisches Ich. Das Gedicht schildert den Beginn der „Nacht“ (V. 1), welche hier personifiziert wird als (offensichtlich riesenhafte) „Mutter“ (V. 6). Während sie ruhig „ans Land“ steigt (vgl. V. 1) und anfängt zu träumen, wird es auf der Erde Nacht, zuerst in den Bergen (vgl. V. 2).
Die Nacht sieht „um Mitternacht“, so der Titel des Gedichts, den alten und den neuen Tag zu gleichen Anteilen. Dieser Moment wird durch das Bild „goldne Waage [der Zeit in gleichen Schalen]“ (Vv. 3-4) ausgedrückt. Die Mitternacht bedeutet einen Augenblick, in dem die Zeit „stille ruh[t]“ (V.4).
Die Nacht erinnert sich (sehnsüchtig?) in einer dreifachen Synästhesie („Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch“, V. 11) an den vergangenen Tag, den sie regelmäßig ablöst (vgl. das Bild „gleichgeschwung’nes Joch“, V.12).
Die Kinder der Nacht sind die „Quellen“ (Vv. 5, 13), die ihre Mutter bei ihrer Träumerei stören, weil sie pausenlos „rauschen“ (V. 5) und vom „heute gewesenen Tage“ (Vv. 8, 16) erzählen, wobei sie ihrer Mutter ein „Schlummerlied“ „singen“ (Vv. 6, 9, 14). Obwohl die Mutter es missachten möchte (vgl. V.10), schläft sie schließlich ein (vgl. V. 14). Die Quellen „behalten [...] das Wort“ (V. 13), d.h. sie setzen ihr Rauschen fort, auch als die Mutter schon schläft.

2.2. Grundstimmung: Während die ersten vier Verse jeder Strophe durch ihren   langsamen Rhythmus die Träumerei der Nacht unterstreichen und verkörpern, ist die Stimmung in den Versen 5-8 jeweils ganz anders, (durch den Daktylus) bewegter, voller Geräusche, was dem lebhaften Fluss der Quellen entspricht. Die Doppelung „Vom Tage, / Vom heute gewesenen Tage“ (Vv. 8, 16) wirkt wie eine Stromschnelle, über die das Wasser hinweghüpft.

3. Interpretation
Die beiden Subjekte, Nacht und Wasser, verkörpern einen unterschiedlichen Umgang mit der  Zeit. Während die Nacht langsam heraufzieht und um Mitternacht sogar verharrt, vor und zurück blickt und von der Schönheit des Tages träumt, fließen die Quellwasser immer weiter, nur in eine Richtung und mit nur einem Thema: sie erzählen vom vergangenen Tag. Während das Wasser und sein Geplapper immer weiter gehen, schläft die Nacht ein (und muss später wieder dem Tag weichen). Obwohl die Nacht eindeutig mächtiger wirkt, ist sie den Quellen unterlegen.

Übertragen auf die Menschenwelt, könnte das Gedicht zwei menschliche Charaktere beschreiben: bedächtige, träumerisch veranlagte Menschen, und aktive, aber eher oberflächliche Charaktere. Das Gedicht wirkt aber vor allem durch die suggestiven Bilder und den abwechslungsreichen Rhythmus.


C. Bilderwelt und Klang des Gedichts wirken nach in Malerei (z.B. Gerhard Richter, Seestück) und Musik (z.B. Hugo Wolf).

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